Das Fortpflanzungsverhalten der Marken
Babys machen ist in der Regel erfreulich. Das haben auch die Markenexperten entdeckt, und sie gingen hin und mehrten redlich: Kaum eine Marke, die nicht in der vergangenen Dekade Töchterchen bekommen hätte. Besonders Konsumgüterhersteller konnten ihren Trieb kaum kontrollieren, und so macht die Einführung neuer Produkte unter etabliertem Markennamen inzwischen in vielen Kategorien einen Anteil von 90 Prozent aus. Das seltsame Fortpflanzungsverhalten der Marken nennt der Fachmann "line extension" oder auf Denglisch "Markentransfer".
Doch scheint sich kaum einer die Frage zu stellen, wie dehnbar so ein Label eigentlich ist. Schließlich weiß jeder Familienmensch, wie diffizil es ist, immer mehr Kinder zu beaufsichtigen. Marken gehören mit zum wertvollsten Besitz der Unternehmen, umso erstaunlicher, mit wie viel Gleichmut ihre Einzigartigkeit strapaziert wird.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Sowohl Nivea als auch Dove ist es gelungen, aus ursprünglich einem Angebot eine ganze Serie an Produkten zu entwickeln. Was mal als Handcreme oder Seife startete, ist heute auch als Deo, Duschgel, Shampoo oder Bodylotion erfolgreich. Flops gibt es jedoch ebenfalls zur Genüge. Melitta beispielsweise war mal ein Synonym für Kaffeefilter - Luftbefeuchter oder Lebensmittelfolien unter dem gleichen Namen blieben jedoch ungeliebte Kinder.
Die wenigen Zahlen, die es zum Thema gibt, sind aufschlussreich. Nestlé beispielsweise verlor in Großbritannien innerhalb von zwei Jahren knapp 17 Prozent seines Marktanteils für den Schokoriegel Kitkat nach der Einführung einer Vielzahl neuer Geschmacksrichtungen. Harley-Davidson wiederum legte an Umsatz zu, nachdem der Kultmotorradhersteller aufhörte, sein Label auch auf Schuhen, Zigaretten oder Gebäck zu verramschen.
Es gibt eine schmale Linie zwischen erfolgreicher Familienpolitik und einem unbeherrschbaren Kannibalenhaufen. Wo genau liegt die Grenze? Schon beim Parfüm von Porsche Design oder erst beim Herrenschmuck von Montblanc? Eine empirische Studie aus Österreich untersuchte sechs Marken im Hinblick auf "line extensions". Würde Nudelproduzent Barilla künftig auch Tiefkühlpizza machen, fänden die Kunden das nachvollziehbar. Finge jedoch Sony an, Mikrowellenherde zu bauen oder Volkswagen eine Kette von Autobahn-Raststätten zu starten, befremdete das die Konsumenten. Einer Autovermietung von VW hingegen würden deutlich mehr Verbraucher Vertrauen entgegenbringen. Das Schlüsselwort hier ist offenbar Kompetenz: Melitta kann Kaffee filtern, aber deswegen noch lange nicht Luft befeuchten; Volkswagen baut Autos, überzeugt aber dennoch nicht als Küchenchef.
Kompetenz alleine reicht jedoch auch noch nicht. Eine Studie an der Universität Hamburg zeigte gleich für drei Marken - Körperpflege wurde um Haarpflege erweitert, eine Kaffeemarke startete eine andere und ein Cerealienhersteller machte auch süße Snacks -, dass nach dem Ausprobieren der Transferprodukte das Image der Markenmutter beim Verbraucher litt. Keinem Transferprodukt gelang es, das Image der Ursprungsmarke zu erreichen, geschweige denn zu stärken.
Ein lahmendes Produkt wird nicht zum Sprinter, weil ihm ein blindes ans Bein gebunden wird: Das wahrgenommene Qualitätsprofil der Mutter muss ausreichend hoch sein, damit für die Kinder auch noch was abfällt. Selbst wenn der Fit zwischen Mutter und Tochter gut ist - also Ähnlichkeit zwischen den Produkten besteht und die Herstellungskompetenz für das Transferprodukt glaubwürdig ist -, kann es zu negativem Feedback für die Kernmarke kommen. Also Vorsicht mit den Dehnübungen! Bei der Markenführung geht's am Ende auch nur zu wie im richtigen Leben: Babys machen mag lustig sein, Kinder zu erfolgreichen Erwachsenen zu erziehen ist deutlich schwieriger.