Aus der Traum: Die Doktrin von der Zielgruppe

Von Peter Littmann

Umweltsünden, Dopingsportler, bestechliche Gewerkschafter, Politikerlügen, Fleischskandale, Priester mit Neigungen zur Päderastie - die Liste ist beliebig. Wem soll man noch vertrauen? Dem Dalai Lama oder Ulrich Wickert? Der gesundheitsfördernden Wirkung von Actimel oder dem Ökometzger um die Ecke? Dem Chef von Daimler-Chrysler oder dem Verkehrsfunk? Eigentlich nur dem eigenen Hund. Jedenfalls nicht der Werbung. Diese Creme macht uns jung, jenes Müsli verhindert Herzinfarkte, dieses Deo lässt uns die Frauen zu Füßen fallen ... für wie blöd halten die uns eigentlich?


Es gab mal Zeiten, da erfand der hoffnungsfrohe Marketingmanager einen Produktnutzen (bessere Flecklösekraft im Waschpulver), begründete ihn mit einer so genannten "Reason why" (Nachbarin eifersüchtig auf Weißer-als-weiße-Wäsche), schon war die Kampagne gewuppt. Beliebt waren auch Vorher-nachher-Demonstrationen: links das herkömmliche Produkt: Wäsche sieht aus wie alte Lumpen; rechts das beworbene: Laken strahlend).

Tempi passati. Das ganze Überlegenheitsgeklingel und all die Nutzenbeteuerungen motivieren uns heute nur noch dazu, die Lippen ironisch zu kräuseln. Wer schon das Schnitzel auf seinem Teller und den Sporttrainer seiner Kinder misstrauisch beäugen muss, wird über "Alleinstellungsmerkmale" auf dem Haarshampoomarkt nur lachen. Diese skeptische Grundhaltung gegenüber Versprechungen aller Art gilt besonders für gebildete, aktive, innovationsfreudige Leute. Soll heißen: Ausgerechnet die Gruppe mit dem eher dicken Geldbeutel und der Fähigkeit, Meinung zu machen, glaubt an Werbeversprechen ungefähr so intensiv wie an die Existenz des Yetis.

Was kann der Werbefachmann da jetzt noch tun? Nun, er kann sich verhalten wie ein Jäger. Der überlegt sich erstens, was er jagen will, kein Mensch geht gleichzeitig auf Rebhühner und Gazellen. Zweitens beobachtet er das Verhalten seiner Beute ganz genau, legt sich auf die Lauer und lauscht, oft stundenlang. Drittens ist sein Auftritt keine leere Drohung, seine Waffen funktionieren tatsächlich. Soll heißen: Zielgruppe definieren, genau analysieren, in ihre Befindlichkeiten einfühlen und dann unbedingt glaubwürdig auftreten.

Doch mit der Definition der Zielgruppe fängt der Ärger in vielen Unternehmen schon an, denn klassisch geht es immer um "bis 49". Dahinter steckt die Überzeugung, dass nur junge Leute beeinflussbar und begeisterungsfähig genug sind, um sich auf neue Produkte und die entsprechenden Werbeaktionen einzulassen.

Irgendwas Mystisches passiert offenbar in der Nacht zum 49. Geburtstag: Schlag zwölf verlieren die Leute Wert, Dynamik und Konsumfreude. Heute begehrter Käufer, morgen disponible Altware? Die meisten statistischen Zielgruppenindizes beschreiben die Gegenwart so zutreffend wie die Hieroglyphen in Ägyptens Pyramiden.

Es reicht in der Regel, mal drei Minuten lang den eigenen Freundeskreis im Kopf durchzugehen: Die Leute heute lassen sich einfach nicht mehr sauber nach Alters- oder Einkommensklassen indexieren. Viele fangen mit 50 noch mal ganz neu an und sind aufgeschlossener für Neues als ihre superkonservativen Kinder; sehr gebildete Zeitgenossen verdienen wenig, weil sie anderen Werten als Geld folgen; manch Immigrant verhält sich deutscher als die Deutschen, die ihrerseits scharenweise zum Buddhismus übertreten oder nach Spanien auswandern. Es gibt Menschen, die haben alle fünf Jahre einen anderen Beruf und ein anderes Ziel. Junge Leute kaufen Aktien, alte Leute schreiben Blogs im Internet.

Doch wenn sich die Menschen mit Demographie nicht einmal mehr beschreiben lassen - warum glauben dann so viele Werber immer noch, dass man sie auf Grund derselben Data glaubwürdig ansprechen oder gar zum Kauf von irgendwas motivieren kann?

Unter anderem, weil alle Systeme so aufgestellt sind: Die Marktforschung arbeitet weitgehend nach statischen Milieus und konstruierten Zielgruppen, Medien messen ihre Reichweiten so, die ganze Branche errechnet ihre Kommunikationsleistung auf diesem Weg. Das Marketing-Management in den Unternehmen wiederum ist glücklich über die Rechenkünste, liefern sie doch die Begründung, warum die Werbemillionen wie geflossen sind, beweist die Statistik doch, dass die Konsumentengruppen x und y so und so lange beschallt worden sind. Wenn Markterfolg nur eine Konsequenz von Geldeinsatz und Werbedruck auf die "Zielgruppe" ist - dann ist doch alles bestens ...

Nix ist bestens! Die Leute greifen sich erst an den Kopf und dann zur Fernbedienung, um umzuschalten.

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