Das Verschwinden der Kindheit

Von Peter Littmann

Auf nichts ist mehr Verlass. Nach über 40 gemeinsamen Jahren in ewiger Jugend trennte sich Barbie von Ken und begann ein kurzes, aber heftiges Verhältnis mit Blaine, einem blonden Surfer aus Australien. Was war passiert? Hatte Ken einen Bauchansatz oder gingen Barbie seine Bindungsängste auf die Nerven?


Wir glauben, dass die Krise im Kinderzimmer eher was mit der Ankunft einer neuen Gruppe von Gören zu tun hat. Sie heißen Bratz und verkaufen sich längst besser als Mattels Püppchen aus dem Jahre 1959. Die coolen Bratz heißen Yasmin oder Fianna, ihre Münder lassen Angelina Jolie schmallippig aussehen, übergroße Augen blicken wie bekifft durch schweres Make-up. Sie tragen zerfetzte Jeans, megakurze Röcke mit Kettengürteln und Tops, die den Nabel blitzen lassen. Zielgruppe der Anti-Barbie? Mädchen zwischen sieben und elf, über die der Chef des Herstellers MGA-Entertainment allen Ernstes sagt: "Sie wollen Neuigkeiten, Innovation und Qualität."

Da wundern sich nicht nur Väter, wie Recht Neil Postman doch hatte mit seinem Buch "Das Verschwinden der Kindheit". In den 80er Jahren vertrat der Kulturphilosoph die These, dass die lange Lebensphase der Hilflosigkeit ein gesellschaftliches Konstrukt sei, das auf die Erfindung des Buchdrucks zurückgehe. Denn mit ihm begann das Konservieren von Wissen in Büchern - um es zu nutzen, musste man lesen können. So entstand die Teilung der Menschen in Lesende - nach Postman Erwachsene - und Lesen Lernende, also Kinder.

Diese Differenz hob das Fernsehen wieder auf: Seitdem Groß und Klein gleichermaßen vor der Glotze kleben und zunehmend auch im Internet, haben Kinder so ziemlich denselben Zugang zu Information wie ihre Eltern. Oder wie Postman schreibt: "... es ist für elektronischen Medien unmöglich, irgendwelche Geheimnisse zu bewahren. Ohne Geheimnisse aber kann es so etwas wie Kindheit nicht geben". So gesehen war das Fernsehen erst der Anfang, Internet und Video-Games sorgen für mehr.

In der Folge imitieren nicht nur Kids Erwachsene, sondern auch Erwachsene infantilisieren. Sie hören dieselbe Musik, spielen mit der Xbox und pflegen dieselben Unsicherheiten wie Teenager im Hinblick auf Sexualpartner und die Wahl des Fashion Labels.

Wem verkauft man in dieser Welt noch welches Spielzeug? An den miserablen Umsätzen mit traditionellem Spielzeug wie Barbie und Lego sind nicht nur sinkende Geburtenraten schuld. PC- und Videospiele haben schließlich Wachstumsraten.

Also gibt es jetzt den CoolP3 für Vier- bis Achtjährige, der Musik aus dem Internet downloaden kann. Oder das Blueberry Organizer Phone für Dreikäsehochs, die so beschäftigt aussehen wollen wie ihr Papa. Wer zum Shoppen flitzen will wie die Mama, kriegt den elektrischen Roller von Razor, der bis zu 24 km/h auf den Tacho bringt. Wer nach einem Haustier quengelt, freut sich über den I-Dog von Hasbro, einen Bastard aus Apples Ipod und Sonys Aibo-Hündchen, der Musik spielen kann und dazu tanzt.

Das ganze Gepiepse und Geballer wird nur noch von dem Gejaule der Eltern übertönt, dass diese hektische Welt schon die Kindheit im Konsumtempel opfere. Trocknet eure Krokodilstränen, liebe Eltern, die ihr diesen Quatsch finanziert, und schenkt Größeren künftig konsequent Bücher, auf dass sie das Lesen lernen und sich erwachsen aufführen. Und Kleinen Bälle, Springseile, Brettspiele... und Puppen, denen sie die Geheimnisse anvertrauen können, die sie hoffentlich wieder haben werden, wenn Ihr mal den Fernseher ausschaltet. Das Gemaule des Nachwuchses kann kaum schlimmer sein als das Wummern eines Videospiels.

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