Marketing-Missionare mit schwächlicher Botschaft

Von Peter Littmann

Balzverhalten an der Bar: Er reißt Witze, wirft seinen Schlüsselbund mit Porscheanhänger auf den Tresen und sich in die Brust. Sie lacht, flirtet heftig, trinkt den Wein, den er ihr bestellt. Doch wer verführt hier eigentlich wen? Ganz offensichtlich der Kerl das Weib, dennoch sind sich die Leute einig, dass die Frauen sich ihre Männer aussuchen und nicht andersrum. Schließlich sagte der französische Sozialphilosoph Jean Baudrillard ganz zu Recht: Wer versucht, jemandem zu gefallen, ist dem Charme des anderen bereits erlegen.


Stimmt das auch für Märkte? Wer Kunden verführen will, muss erst einmal ihrem Zauber erliegen? Moment mal! Normalerweise verführen Marken Kunden zum Kauf und nicht Kunden Marken. Na klar, aber es funktioniert auch umgekehrt.

Nachdem die Amerikaner in den 70er Jahren schwere, Sprit saufende Autos kauften, begannen sie sich nach den Ölkrisen für die sparsameren Japaner zu interessieren. Damit zwangen sie die US-Industrie, einen neuen Typus Wagen anzubieten. Dasselbe passiert zur Verblüffung von General Motors oder Ford gerade wieder: Nach einer Welle gigantomaner Sportgeländewagen bricht unterm Sternenbanner - erneut ausgelöst durch steigende Benzinpreise - gerade der Trend zum halbelektrischen Hybridauto aus. Gut möglich, dass die Amerikaner bald den auch bisher völlig unterrepräsentierten Diesel entdecken und plötzlich small beautiful wird.

Ähnliches passiert dank der Umwelt- und Globalisierungsbewegung: Nike agitiert gegen Sweatshops, Shell veröffentlich einen Umweltbericht, Chiquita heuert Biologen und lässt sich die Unbedenklichkeit seiner Plantagen bestätigen. Oder wie sagte ein Ökonomieprofessor so schön: Die Briten haben 300 Jahre lang versucht, Indien zu dominieren - mit dem Ergebnis, dass die vorherrschende Küche in England heute indisch geprägt ist.

Doch Kunden zu verstehen, fällt vielen schwer. Jährlich kommen ungefähr 35 000 neue Lebensmittel, Getränke und Schönheitspflegeprodukten neu auf den Markt. Die meisten gehen unter wie der Eisberg am Äquator. Jede vierte so genannte Line Extension - also wenn etwa Pepsi Weihnachten mit einer speziell gewürzten Brause antritt - produziert keinerlei zusätzlichen Absatz. Ganze zwei Prozent aller Neuentwicklungen schaffen in den USA im ersten Jahr einen Umsatz von mehr als 100 Millionen Dollar, was dort als Schwelle zum Erfolg gilt.

In dieser Not verwandeln sich ganze Marketingabteilungen in Missionsstationen: Dem Kunden wird gepredigt, dass er ganz viele ihm unbekannte Bedürfnisse habe. Dabei ist kein Schäfchen zu klein, um der Aufmerksamkeit des Hirten zu entgehen. Sehr schön ist etwa das Waschpulver mit eingebautem Weichspüler: Marktforschung ergab angeblich, dass es den meisten Frauen zu aufwendig sei, ein zweites Mal zur Maschine zu rennen, um ein Duftwässerchen reinzukippen.

Innovation heißt heute offenbar: Wir lösen dem Kunden mit einem neuen Produkt ein Problem, dass er ohne die Verwendung unseres alten Produkts gar nicht hätte. Wow! Muss man da noch sagen, dass so bestimmt keine unser Leben verändernde Killer-Applikation wie der Reißverschluss, das Waschmittel, das Telefon, die Billigfluglinie oder der iPod entsteht?

Angesichts dieser Missionare und ihrer schwächlichen Botschaft grenzt es an Wunder, dass die Verbraucher nicht in Scharen vor der Predigt flüchten. Oder tun sie's bereits? Laut America Research Institute hielten 2003 ganze 48 Prozent der Befragten Marken für besonders wichtig. Ein Jahr später waren es noch 32 Prozent. Die Warnung steht gut lesbar an der Wand: Verbraucher wollen ernst genommen werden, einen authentischen Auftritt erleben und einen reellen Gegenwert für ihr Geld. 35 000 Pseudoinnovationen im Jahr haben mit Verführung so viel zu tun, wie der Internet-Spam, der uns täglich rezeptfreie Potenzmittel und Penisverlängerungen verkaufen will.

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