Neue Ehrlichkeit
Durchschnittlich" antworteten fast alle, als der Konsumartikelhersteller Unilever ein paar tausend Frauen rund um den Globus fragte, wie sie ihr Aussehen beurteilen. Nur zwei Prozent bezeichneten sich selber als "schön". Ein Macho würde jetzt sagen: "Stimmt genau!", eine Feministin die männlich dominierte Fremdbestimmung beweinen und ein Psychiater einen Minderwertigkeitskomplex diagnostizieren.
Tatsächlich ist es schlicht die Wahrheit. Frauen sehen aus, wie Frauen nun mal aussehen. In der Werbung dominieren jedoch die Supermodels. Von denen gibt es vielleicht 50 – von den anderen drei Milliarden.
"Die Frauen werden überspült mit Stereotypen und unerreichbaren Schönheitsvorstellungen", meint Fernando Acosta, Markendirektor für Seife bei der Unilever-Tochter Dove in den USA. "Als wir das begriffen hatten, fanden wir uns auf fruchtbarem Boden wieder." Aus dem wuchs eine weltweite Kampagne, in der ganz normal hübsche, ganz normal runde Frauen sich über schöne Haut freuen. Inklusive Sommersprossen, Falten und Babystreifen. Die Kampagne mit Frauen von nebenan – die übrigens in Europa startete, bevor sich die Amerikaner damit in ihr beautybesessenes Heimatland trauten – löste heftige Diskussionen aus.
Viele Frauen finden es wundervoll, wenn diese austauschbaren schrecklich dünnen Kindfrauen aus den massiv geschönten Anzeigen verschwinden. Viele Männer übrigens auch, zumindest diejenigen, die gegen ein paar Rundungen an den richtigen Stellen nichts einzuwenden haben. Andere wiederum waren schockiert von so viel Realismus. In einem Weblog schimpft eine 28-Jährige, sie fände Kampagnen "schrecklich", in denen Frauen auftauchen, "die schlechter aussehen als ich". Auf der Dove-Internetseite (www.
campaignforrealbeauty.com) können Verbraucher abstimmen, und die überwiegende Mehrheit findet die dort gezeigten "ganz normalen" Frauen schön.
Die Debatte spiegelt die unterschiedlichen Meinungen in der Fachwelt: Können wir in einer in Schönheit verliebten, aber alternden Gesellschaft mehr Käuferinnen finden, wenn unser Auftritt realistischer wird? Oder wollen die Frauen, dass man ihnen ewige Jugend verspricht, selbst wenn das gelogen ist?
Die eine Fraktion sagt: Frauen reagieren positiv, wenn man ihnen das Gute zeigt, das sie besitzen, anstatt ewig ihre Minderwertigkeitskomplexe auszubeuten: "Jede Haut ist schön." Das andere Lager meint: Durchschnittsfrauen zu sagen, sie seien schön, macht ihnen dieses warme, weiche Gefühl im Bauch – aber davon klingelt noch keine Kasse.
Worum geht es hier wirklich? Millionen Frauen der Babyboomerjahre finden sich gerade mit dem Ende ihrer Jugend ab. Dennoch lebt ein großer Teil dieser Konsumentengruppe in dem Bewusstsein "Mit 40 geht’s erst richtig los". Kaum eine leugnet ihr Alter, denn 50-jährige Frauen sehen heute jünger aus als alle Generationen vor ihnen im selben Alter. Gleichzeitig zeigt die Marktforschung, dass sich die meisten Menschen Leuten zuordnen, die zehn Jahre jünger sind als sie selber.
Die Babyboomer wandeln auf dem schmalen Grat zwischen Verdrängung und Realitätssinn. Und die Werbung treibende Wirtschaft versucht, ihnen zu folgen. Estée Lauder zeigt ältere Models, Marks & Spencer dickere Frauen, für Revlon wirbt die über 50-jährige Schauspielerin Susan Sarandon, Gap plant ein neues Ladenkonzept für Menschen über 35. Und Dove freut sich über 2,8 Prozent mehr Umsatz bei Seife und Gesichtspflege und überträgt das Konzept auch auf die Haarpflege.
Kann diese neue Ehrlichkeit auf Dauer funktionieren? Ja, aber sie muss einen aufrichtig gemeinten Hintergrund haben. Der gut gemachten Dove-Kampagne nimmt man ab, dass sie den Frauen ernsthaft zu mehr Selbstvertrauen rät. Die Aidsopfer hingegen, die Benetton vor einigen Jahren zur Schau stellte, wirkten bloß zynisch. Die Konsumenten müssen sich identifizieren mit der Botschaft – wie mit der Öko-Orientierung von Body Shop. Schließlich kommt es auf handwerkliche Qualität an. Die Protagonisten "realer" Kampagnen müssen auch wirken wie echte Menschen, nicht wie Gestalten aus Seifenopern. "Durchschnittlich" funktioniert vielleicht bei der Auswahl der Models, aber nicht bei der Umsetzung der Strategie.