Bettgeflüster oder Beethoven

Von Peter Littmann

Unlängst in der Oper gewesen? Im Rahmen des Üblichen war die Aufführung sicher ordentlich – aber das Publikum! Lauter alte Leute. Die Männer in zu engen schwarzen Anzügen mit silbernen Krawatten, die Damen in Kleidern, die aussehen wie früher die Vorhänge bei der Oma. Leute unter 45 sind kaum zu sehen, es sei denn, sie haben wieder mal eine unwillige Schulklasse in die Oper gezwungen. Nichts gegen die Senioren im Lande – mögen sie lange und fröhlich leben! –, aber dass sie heute beinah die einzigen Besucher der Opernhäuser sind, ist ein schlechtes Zeichen.


Nach 40 Jahren Popkultur wird klassische Musik viel mehr mit der Vergangenheit assoziiert als mit der Gegenwart. Im öffentlichen Bewusstsein findet sie kaum noch statt, steht sie doch im Wettbewerb mit allen anderen Formen der Unterhaltung, von denen beinahe jede leichter zugänglich und schneller befriedigend ist als die Auseinandersetzung mit den oft jahrhundertealten Werken.

Neue Hörerschichten sind also dringend gesucht, auch im Interesse der Musik selber. Die Marketingoffensive, die wir gerade erleben, war überfällig. Das Dilemma ist bloß: Wie kann klassische Musik ein breiteres Publikum erreichen, ohne dabei künstlerisch an Qualität, Integrität und Tiefe zu verlieren?

Was passiert, wenn die Klassik die Waffen der Popmusik benutzt, zeigen uns Vanessa Mae, die sich aufführt wie die Britney Spears des fallenden Vorhangs oder Charlotte Church. Das war der hübsche Teenager mit der "engelsgleichen" Stimme, der heute nach zu viel PR-Gags bestenfalls noch als Putte durchgeht.

Ein ähnliches Schicksal könnte dem Pianisten Lang Lang drohen und der Violinistin Midori: Frühzeitig verheizt, bevor sie wirklich reif waren für ihr Publikum. PR kauft Aufmerksamkeit und maskiert Schwächen – aber halt nur für ein paar Monate. Bestenfalls.

Wenn man Interpreten weniger nach ihrer Begabung beurteilt und mehr nach der verkauften Auflage ihrer CDs, kommen geigende Pin-ups heraus und Interviews, in denen die jungen Schönen mit demselben Ernst über Bettgenossen parlieren wie über Beethoven und Armani statt über Adagio und Fortissimo.

Das könnte man auch besser machen! Die französische Pianistin Hélène Grimaud schrieb ein Buch über ihre Leidenschaft für Wölfe. Mit Musik hat das nicht viel zu tun. Aber es hilft, Platten zu verkaufen, ohne sie als Künstlerin zu diskreditieren. Auch die schöne russische Sopranistin Anna Netrebko war in den vergangenen Monaten weit über die Opern- und Konzerthäuser hinaus sichtbar. Schließlich vergisst das erotische Gesang- und Marketingwunder in kaum einem Interview zu sagen, dass Musik Orgasmen auslösen kann. Tatsächlich kann sie die Desdemona aus dem "Otello" so betörend singen, dass nach dem letzten Ton alle weinen: sie selber, das Orchester und auch Claudio Abbado, der Dirigent.

Dennoch wenden sich wahre Afficionados mit Grausen ab. Sie befürchten, dass der Zirkus um die lautesten Interpreten diejenigen Künstler in den Hintergrund drängt, die zu sensibel sind für Getrommel – auch wenn die der Menschheit vielleicht mehr zu bieten hätten. Ein ähnliches Schicksal droht der Kammermusik oder dem Streichquartett. Sie sind einfach nicht spektakulär genug fürs Marketing. Seriöse Kritiker wie Andrew Clark bedauern jetzt schon die seuchenartige Verbreitung von Ausdrücken aus der Produkt-PR wie "aufregend", "leidenschaftlich" oder "brillant".

Trotzdem kommen wir um die Erkenntnis von Timothy Walker nicht herum. Der Managing Director des London Philharmonic Orchestra beobachtet: "Leute, die Medien benutzen und PR-Experten beschäftigen, sind generell erfolgreicher." Er weiß, wovon er spricht: 35 Prozent der Einnahmen aus dem Kartenverkauf des Orchesters fließen ins Marketingbudget. Europäer halten schockiert den Atem an, Amerikaner lachen bloß. Deren Orchester haben noch nie Subventionen bekommen.

Susan Mathieson Mayer, Marketingdirektorin der Lyric Opera of Chicago, meint dazu: "Es ist eine ziemlich elitäre Wahrnehmung, dass die Leute von alleine merken sollen, wie gut ein Künstler oder wie wichtig die Kunst ist. Wir in Amerika können uns das nicht leisten." Wir in Europa auch nicht, sonst stirbt unsere Oper zusammen mit dem Opernpublikum.

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