Der leicht verschwommene Blick des Fehlsichtigen
Nicole Kidman trägt sie, ebenso Scarlett Johansson, Madonna oder Liv Tyler - die Brille. War der männliche Vertreter der Spezies Brillenschlange auf der Suche nach einem Ego verstärkenden Rollenmodell bislang auf Clark Kent (das ist "Superman" in seinem Freizeitlook als bebrillter Journalist) angewiesen, findet er jetzt reichere Auswahl etwa mit Johnny Depp oder Jarvis Cocker, dem Frontmann der britischen Band Pulp.
Lange galt Sehschwäche bloß als Makel. Das lassen zumindest Zehntausende von Laser-OPs vermuten, mit denen die Menschen das Nasenfahrrad aus dem Gesicht vertreiben. Inzwischen jedoch ist die Brille als Intelligenzverstärker modisch an vorderster Front. Gläser im Gesicht stehen für lesen und denken, für tief und gründlich - und als solches avantgardistisch gegen den Zeitgeist von schnell und flach. Doch wer weiß, wie lange der Trend zur Brille hält. Wer kann, nehme also schnell die seine von der Nase, lutsche am Bügel und genieße den leicht verschwommenen Blick des Fehlsichtigen auf die Welt. Der ist unser Privileg, wenn Klarsichtigkeit mal wieder einfach nur weh tut.
Allein die Sonnenbrille ist modisch gesehen ein ewiger Wert, weil die Stars sie zum Schutz vor Paparazzi brauchen. Wie das geht, zeigt Diva Shirley McLaine, die gerade ihr 23. Comeback mit zwei Wagenrädern im Gesicht hinlegt. Sie beweisen Durchblick, Madame! Für uns Normalsterbliche hingegen ist dunkles Glas nur ein Mittel, um das brandorientierte Outfit auf Vordermann zu bringen.
Für die Marketingmenschen hinter den Labels funktioniert das Spiel andersrum: Die vergleichsweise günstigen Sonnenbrillen verkaufen sich gut und halten ein Label so im Gespräch. Vittorio Verdun, Marketingchef von Luxottica, der Brillen für Chanel oder Prada herstellt, kennt die Brücken, die Designer zwischen Brillen- und Klamottengeschäft bauen wollen: "Die Farben und Stilelemente, die Kleidung und Accessoires prägen, werden auch auf Sunwear übertragen." Eine coole Brille macht Lust auf mehr - so die Hoffnung.
Diese Saison, so steht es zumindest beim Infodienst visioncareproducts.com, droht uns Bling Bling. Das ist Glimmer, Glitzer, Glamour mit bunten Kristallen von Swarovski an der Schläfe. Alternativ gibt es randlose Wraparounds, die an Skibrillen erinnern. Escada liefert sie in allen Farben, von Prada gibt es eine leisere Version in Grau. Im Sommer können wir mit dem simplen Brillenwechsel beschwingt zwischen sportlich, klassisch und mondän hin und her springen.
Das heißt, wenn man nicht auf eine "richtige" Brille angewiesen ist, um überhaupt was zu sehen, und von daher für Schnickschnack keinen Platz im Gesicht hat. Doch trösten wir uns: Sonnenbrille-Tragen will auch gelernt sein: Viele Leute wirken mit den Dingern wie ein narzisstisch gestörter Polizist aus Osteuropa oder verkaterter Mafiosi mit Migränebrille. Wir Brillis hingegen wirken immerhin so, als könnten wir bis drei zählen.