Das Wahre oder bloß Ware?
In diesem Land gibt es ein paar Dutzend verschiedene Zahnbürsten zu kaufen, einige hundert Typen Turnschuhe und Tausende von Spezialzeitungen. Jeder Bahnhofskiosk quillt über vor bedrucktem Papier. Für alle ist was dabei: Sex, Mode, Sport, Möbel, Essen und Trinken, Haustiere, Gartenpflege . . . Was auch immer den Leuten Spaß macht. Seit Jahren steigt nicht nur der Freizeitanteil im Leben der Menschen, sondern auch das Angebot an so genannten "Special Interest"-Titeln – Zeitschriften, die sich an die breite Bevölkerung wenden, sich aber nur mit einem Thema beschäftigen.
Daran ist die werbetreibende Wirtschaft nicht unschuldig. Viele Entscheider besonders in der Konsumgüterindustrie gehen heute über die übliche "SSF-Belegung" ("Spiegel", "Stern", "Focus") hinaus und suchen neue Wege, ihre Zielgruppe aufzuspüren. Sie finden Special Interests attraktiv, gerade weil sie monothematisch auftreten und eine relativ homogene Leserschaft erreichen. Die Überlegungen dazu sind simpel: Hintergrundberichterstattung über die Lieblingsthemen der Leser führt zu besonders langer Lesedauer. Und wer sich gemütlich zu Hause mit seinem Hobby beschäftigt, ist auch für Werbung besonders empfänglich.
Wer in einem Special schaltet, schielt also in der Regel nicht auf Auflage und Reichweite, er will eine präzise definierte Lesergruppe passgenau ansprechen und Streuverluste minimieren. Gucci, Armani oder Prada beispielsweise machen sich im Fernsehen eher rar. Ihre Botschaft soll nicht mit der Schrotflinte unters Volk gebracht, sondern zielgenau mit dem Laser platziert werden. Für Luxusmarken sind die Printmedien die wichtigsten Werbeträger.
Das ist nicht erstaunlich, denn Leser, die eine Fachzeitschrift über Uhren, Kunst, Mode, Golf oder Tauchen abonnieren, sind in der Regel einkommensstark. Studien belegen, dass diese Luxus-Klientel überwiegend in städtischen Räumen lebt, in leitender Position oder selbstständig tätig ist und Golf, Reiten oder gar mentales Training zu ihren Lieblingsfreizeitbeschäftigungen zählt.
Mal abgesehen vom mentalen Training, ist das für die Wirtschaft natürlich attraktiv, und deswegen stieg in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der IVW-geprüften Publikumstitel von 250 auf mehr als 800 – vor allem durch Special Interests. Die Gesamtauflage kletterte dabei allerdings um weniger als 50 Prozent. Das bedeutet: Immer mehr Druckwerke kämpfen um eine begrenzte Anzahl Leser. Der daraus resultierende Wettbewerb unter den Verlagen ist leicht vorstellbar und ziemlich gnadenlos. Das ist gut – und schlecht zugleich.
Gut, weil Wettbewerb in allen Märkten zunächst dafür sorgt, dass Verbraucher zu vernünftigen Preisen ordentliche Ware bekommen. Im Zeitschriftensegment müsste das heißen: gut recherchierte und geschriebene Hintergrundartikel von unbestechlichen Fachleuten. Schlecht wird der Wettbewerb dann, wenn der Überlebensdruck für einzelne Blätter so hoch wird, dass Redaktionen sich ihrem Anzeigenvertrieb beugen. So ziemlich jedes Segelmagazin lebt beispielsweise von ein paar großen Anzeigenkunden wie Beneteau oder Bavaria – den Herstellern der meisten Yachten, die für Privatleute noch erschwinglich sind. Wie distanziert kann ein Testbericht über ein neues Schiff noch sein? Ähnliche Abhängigkeiten gibt es natürlich für Auto-, Fahrrad-, Tauch-, Jagd-, Motorrad-, Uhren- und alle anderen Fachblätter.
Die Glaubwürdigkeit so manch eines Special Interests ist also zweifelhaft, um es höflich auszudrücken. Auf die Dauer ist das fatal: für die Leser, für die Anzeigenkunden und schließlich auch für das Blatt selber. Wer kauft schon distanzfreie Berichterstattung?
Kurz: Printmedien, die als Umfeld für Luxusmarken und ihre Käufer interessant sein wollen, müssen selber die Glaubwürdigkeit einer Luxusmarke haben. Das heißt neben aller Noblesse der Fotostrecken und der geballten Ästhetik im Layout auch und vor allem: Charakter.
Und damit ist es wie bei den Menschen: Einer, der immer nur alles toll findet, ist ein Jasager und kein Trendsetter. Oder anders herum formuliert: Für die Leser ist es ein Qualitätsmerkmal, wenn "ihr" Blatt kritisch ist und, wenn nötig, auch mal schlechte Noten verteilt. Es legt nämlich nah, dass es dieser Redaktion noch um das Wahre geht – und nicht nur um die Ware.